Gesellschaft

Der Mythos der Spaltung

Viele glauben, dass Deutschland ein tief gespaltenes Land ist, dabei zeigt sich: Im europäischen Vergleich stehen wir eigentlich gut dar. Zudem erscheint das Gesellschaftsbild hinter solchen Klagen allzu überholt.

Politische Grabenkämpfe, wirtschaftliche Ungleichheit, immer kleinere Gemeinsamkeiten – an Diagnosen, die Deutschland eine innere Spaltung nahelegen, gibt es wahrlich keinen Mangel. Fast jeder zweite Deutsche ist laut einer Allensbach-Umfrage davon überzeugt, dass die Gesellschaft in vielen Themen gespalten ist und die Meinungen sich unversöhnlich gegenüberstehen. Das Urteil ist allzu verlockend: Weil der Begriff der Spaltung ungenau ist und immer passend erscheint, wird er in Debatten inflationär verwendet.

Umfragen sprechen gegen eine umfassende Spaltung

Der Vergleich mit den anderen EU-Staaten zeigt jedoch: Deutschland ist nicht gespaltener als andere Länder. 21 Prozent der Befragten aus Deutschland vertrauen ihren Mitmenschen nicht – der EU-Durchschnitt liegt mit 28 Prozent darüber. In Deutschland gaben 44 Prozent, also weniger als die Hälfte an, der Regierung zu misstrauen. Im europäischen Vergleich eher wenig: In allen anderen EU-Staaten liegt der Wert bei 60 Prozent. Auch die Einkommensungleichheit liegt in Deutschland unter dem EU-Durchschnitt. Zudem hat die Häufigkeit von menschenfeindlichen Aussagen im Laufe der vergangenen 20 Jahren in Deutschland stark abgenommen. Pauschalaussagen über den Zustand der deutschen Gesellschaft widersprechen also den Fakten. Wer permanent von Spaltung spricht, schürt das Misstrauen auch selbst.

Einigkeit ist ein unerfüllbarer Anspruch

Das bedeutet nicht, dass es gar keine gesellschaftlichen Zerwürfnisse gibt. Aber zumindest zeigt sich, dass Misstrauen und Ungleichheit bei weitem nicht so groß sind, wie sie öffentlich erscheinen. Zudem gehen die Mahnungen von einem völlig falschen Gesellschaftsbild aus. Dass alle Teile einer Gesellschaft sich verstehen und respektieren müssen, die Gesellschaft solidarisch, inklusiv und harmonisch sein muss, ist ein Mythos. Deutschland ist eine facettenreiche und pluralistische Demokratie – keine gleichförmige Stammesgesellschaft. In einer vielfältigen Demokratie zu leben heißt eben auch, Menschen mit weniger Gemeinsamkeiten zu ertragen.

Ideale bleiben wichtig

„Romantische Gemeinschaftsideale sind nicht als Maßstab für moderne Gesellschaften geeignet“, sagt IW-Verhaltensforscher Dominik Enste. „Das heißt nicht, gesellschaftliche Ideale ganz aufzugeben. Wir sollten weiterhin das Ziel haben, Fälle von Ausgrenzung, Diskriminierung oder sozialen Notlagen zu lösen.“ Vielleicht tröstet da, dass es für viele grundlegenden Themen immer noch einen breiten Konsens gibt – etwa was das demokratische System, EU- und Nato-Mitgliedschaft, Marktwirtschaft oder Sozialpolitik angeht.


Alle Details finden Sie in "Gespaltene Gesellschaft - Hintergründe, Mythen, Fakten", einer Studie des Roman-Herzog-Instituts.

 

Prof. Dr. Dominik H. Enste hat nach seiner Ausbildung zum Bankkaufmann Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in Köln, Dublin und Fairfax (Virginia) studiert (Diplom) und zu wirtschaftsethischen Themen promoviert (Dr. rer. pol). Nach einigen Jahren in der Finanz- und Versicherungsbranche wechselte er 2003 zum Institut der deutschen Wirtschaft Köln und ist seit 2011 dort Leiter des Kompetenzfeldes Verhaltensökonomik und Wirtschaftsethik. Seit 2012 ist er außerdem Geschäftsführer der IW Akademie GmbH und zugleich seit 2013 Professor für Wirtschaftsethik und Institutionenökonomik an der Technischen Hochschule Köln und Dozent an der Universität zu Köln.